Statt Geld gibt es Zeit fürs Helfen

Das Zeitvorsorgemodell ist gefragt. Immer mehr Menschen engagieren sich für diese
vierte Vorsorgesäule, etwa bei der seit neun Jahren tätigen Organisation Kiss. Diese wächst stetig. Noch engagieren sich vorwiegend ältere Menschen, doch auch Jüngere machen vermehrt mit.

Mireille Guggenbühler

Hedy Burri ist siebzig Jahre alt und ausgebildete Pflegefachfrau. Noch bis vor einem Jahr war die Aargauerin berufstätig – nun setzt sie ihre Kompetenzen im Zeitvorsorgemodell Kiss ein. «Ich betreue mehrere Leute, ein bis zwei Personen regelmässig und andere bei Bedarf», sagt Hedy Burri. Ob sie die ihr anvertrauten Personen zum Arzt begleitet, für sie einkauft oder diese zu Hause besucht – ihr gefallen der Austausch und der Kontakt zu Menschen, die sie vorher nicht gekannt hat. Und: Sie kann dabei auch auf ihre berufliche Erfahrung zurückgreifen. 

Das soziale Netzwerk erweitern

Für all diese Leistungen werden Hedy Burri Stunden gutgeschrieben, für die sie später selbst einmal Unterstützung einfordern kann. «Weil meine Tochter und alle nahen Verwandten weit weg wohnen, kann ich keine regelmässige Hilfe im Alter erwarten. Ich habe zwar ein soziales Netz, auf das ich in der Not zurückgreifen könnte, aber das Zeitvorsorgemodell ist für mich eine gute Möglichkeit, mein Netz noch zu erweitern und neue Leute kennenzulernen.» Und: Es ist eine Möglichkeit, sich ohne schlechtes Gewissen helfen zu lassen. Denn: «Viele Menschen in meinem Alter haben Mühe, Hilfe anzunehmen, wenn sie diese nicht entschädigen können. Mit dem Zeitvorsorge­modell lässt sich dies vermeiden. Meine Entlöhnung sind die Stunden, die ich gutgeschrieben bekomme für meine Hilfe.» 

Die angesammelten Stunden hat Hedy Burri mittlerweile auch schon einmal für sich selbst eingesetzt – und zwar bei Pro­blemen mit ihrem Computer. Via Anlaufstelle in ihrer Region wurden Hedy Burri Personen vermittelt, die ihr helfen konnten.

So wie Hedy Burri gibt es in der Schweiz immer mehr Menschen, die sich bei einer der Genossenschaften von Kiss engagieren. Kiss steht für «Keep it small and simple» und ist so klein, wie es tönt, gar nicht mehr: Das Zeitvorsorgemodell von Kiss findet nämlich seit der ersten Genossenschaftsgründung vor neun Jahren immer mehr Anhängerinnen und Anhänger. Zurzeit sind 16 Vereine oder Genossenschaften mit beinahe 3000 Mitgliedern aktiv und etwa zehn Regionen befinden sich im Aufbau. Und alle haben sie dasselbe Ziel: Menschen unterstützen Menschen, die sich in einer schwierigen Situation befinden. Diese Tandems, wie man sie intern nennt, werden durch Fachpersonen zusammengeführt und begleitet. «Kiss bringt Menschen zusammen, um die Gemeinschaft zu stärken, damit Menschen aller Generationen in der Gesellschaft eingebunden bleiben, auch wenn sie vielleicht nicht mehr so mobil sind und Betreuung oder Begleitung benötigen», sagt der Geschäftsleiter der Fondation Kiss, Martin Villiger. Im Moment machen noch vorwiegend ältere Menschen mit, aber Kiss sei grundsätzlich als generationenübergreifende Organisation zu verstehen. Immer mehr setzten sich auch jüngere Menschen ein. 

Corona verlangte Anpassungen

So engagiert Hedy Burri bei Kiss mitmacht, so plötzlich musste sie ihr Engagement der Coronakrise wegen anpassen. Die unkomplizierte Art der Unterstützung wurde ­während des Lockdowns plötzlich etwas umständlicher: «Weil ich selbst zur Risikogruppe gehöre, konnte ich gewisse Leistungen nicht mehr anbieten, zum Beispiel einkaufen gehen.» Hedy Burri hat sich deshalb umorganisiert und quasi im ­Homeoffice gearbeitet. So hat sie etwa für eine Person, die kaum mehr gehen konnte, die nötige Hilfe von zu Hause aus organisiert. Sie selbst war dann froh, dass sie auf Unter­stützung beim Einkaufen durch ­jüngere ­Menschen zählen konnte. Denn: Kiss ­arbeitete während der Zeit des Lockdowns in verschiedenen Regionen, wie etwa im Bezirk Bremgarten, wo Hedy Burri wohnt, mit anderen Organisationen zu­sammen.

Die Coronakrise hat die Nachbarschaftshilfe während des Lockdowns von einem Tag auf den anderen in den Fokus gerückt. In vielen Gemeinden sind in dieser Zeit Hilfsangebote entstanden. «Verschiedene Regionen und Gemeinden möchten nun die spontan entstandene Nachbarschaftshilfe mit Kiss weiterführen und unsere ­Infrastruktur, unser Wissen und unsere ­Erfahrung nutzen», sagt Martin Villiger. Andere Gemeinden sehen keinen Handlungsbedarf. «Diese sagen sich, es hat ja auch ohne eine Organisation wie Kiss gut funktioniert», so Villiger. Dass sich die ­verschiedenen Organisationen, die im ­Bereich der Nachbarschaftshilfe oder in der Freiwilligenarbeit tätig sind, wegen Kiss gegenseitig die Leute ausspannen, das glaubt Martin Villiger nicht. «Viele Frei­willige werden bei Kiss zusätzlich aktiv und geben ihre bestehenden Engagements nicht auf. Zusätzlich beobachten wir, dass dreissig Prozent unserer Mitglieder zum ersten Mal Freiwilligenarbeit machen.»

Kiss verändert sich

Seit der Gründung hat Kiss nicht nur viele neue Mitglieder gewonnen, sondern sich auch als Organisation verändert. So arbeitet Kiss beispielsweise in verschiedenen Regionen in der Flüchtlingsarbeit mit oder mit anderen sozialen Organisationen zusammen. Kiss stellt diesen die eigene Infrastruktur zur Verfügung, weil damit der ­Nutzen der Freiwilligenarbeit für die Gesellschaft sichtbar gemacht werden könne, sagt ­Martin Villiger. So sollen etwa IV-­Bezüger ihren Einsatz, ihre gewonnene ­Erfahrung und ihre Qualifikationen mittels dem Zeiterfassungssystem von Kiss nachweisen können und Anerkennung für das Erreichte erhalten. 

Ende August 2019 wurde die Fondation Kiss mit einem aktuell dreiköpfigen ­Stiftungsrat gegründet. Dieser unterstützt mit der Geschäftsstelle die Regionen beim schweizweiten Aufbau und vergibt die ­kostenlosen Lizenzen auf den Social-­Franchising-Grundlagen (vgl. Box).

Längerfristiges Ziel ist es laut Martin ­Villiger, auch vermehrt mit Firmen, Politik, Gesellschaft und Hochschulen zusammenzuarbeiten. Denn: «Mehr Anerkennung ­bekommen wir erst dann, wenn wir wissenschaftlich aufzeigen können, welche Wirkung das Zeitvorsorgemodell hat.»

Hedy Burri möchte auf jeden Fall nicht mehr auf dieses Modell verzichten: «Die Idee von Kiss überzeugt mich noch immer, weil alles sehr unkompliziert und die Hemmschwelle, Hilfe anzunehmen, tief ist.»

Fondation Kiss
Wer Kiss in einer Region aufbauen möchte, erhält das Social Franchising der Fondation Kiss zur Verfügung gestellt. Die Fondation und deren Geschäftsstelle stellen Grundlagen, Formulare und Erfahrung zur Verfügung. Diese gemeinsamen Grundlagen stellten sicher, dass die Mitglieder einen vertrauenswürdigen Partner hätten, sagt Martin Villiger. Die Fondation selbst nimmt zentrale Aufgaben wahr und verhandelt mit überregionalen Partnern.