Trotz dem Überfluss an Nahrung ist in der Schweiz eine Mangelernährung bei älteren Menschen nichts Seltenes. Seniorinnen und Senioren sollten insbesondere auf eine genügende Eiweisszufuhr achten. Sie hilft – zusammen mit dem richtigen Training – die Muskelkraft zu erhalten und Stürze zu vermeiden.
Claudia Benetti
Früher ass man im Alter wenig abwechslungsreich. Nach neusten Erkenntnissen sind in diesem Lebensabschnitt Lebensmittel mit hohem Proteingehalt wichtig.
«Die Malnutrition, bedingt durch Aufnahme von sowohl zu wenig Energie als auch von zu wenig Vitalstoffen, ist bei älteren Menschen verbreitet», erklärt Dr. Dieter Breil, Chefarzt Akutgeriatrie im Felix Platter Spital in Basel. Denn im Alter sinkt der Grundumsatz um etwa 25 Prozent, während der Nährstoffbedarf gleich bleibt oder wie beim Eiweiss sogar grösser wird. «Senioren sollten sich deshalb nährstoffverdichtet ernähren», so der Altersmediziner.
Um fit zu bleiben, sei es essenziell, die Muskelkraft zu erhalten. Ab vierzig Jahren baut der Körper altersbedingt jährlich ein bis zwei Prozent Muskelmasse ab. Verloren gehen vor allem die schnellen Typ-2-Muskelfasern; sie sind für Gleichgewicht und Koordination wichtig. Dieser Muskelabbau kann zu einer Sarkopenie und funktionellen Einschränkungen führen. «Es fehlt dann etwa die Kraft zum Treppensteigen oder die Gehgeschwindigkeit genügt nicht mehr, um während einer Grünphase noch den Zebrastreifen queren zu können», erläuterte Breil. Muskelschwäche ist zudem der häufigste Grund für Stürze und der Alterssturz wiederum ist die häufigste Unfalltodesursache.
Erhalt der Muskelkraft ist das A und O
«Für den Erhalt der Muskelkraft muss ab fünfzig Jahren mehr Eiweiss aufgenommen werden.» Der empfohlene Tagesbedarf beträgt bei Erwachsenen 0,8 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht (g/kg/KG), bei gesunden Senioren 1,2 g/kg/KG und
bei älteren Menschen mit Krankheiten 1,5 g/kg/KG.
«Um auch eine gute Muskelsynthese zu haben, muss das Eiweiss zudem gleichmässig über den Tag verteilt aufgenommen werden», betonte der Experte. Am besten würden deshalb schon am Morgen Milchprodukte (Käse, Eier), am Mittag und Abend dann Fleisch oder Fisch sowie Hülsenfrüchte, Getreide und Nüssen gegessen.
Im Alltag schaffen es allerdings nicht alle Seniorinnen und Senioren, ihren täglichen Proteinbedarf über die Nahrung vollständig zu decken. Denn in 200 g Fleisch stecken gerade einmal 45 g Eiweiss, in einem Liter Milch 32 g und in einem Ei 6 g. «Für viele ältere Menschen empfiehlt es sich deshalb, das Eiweiss zu supplementieren», betonte der Geriater.
Zur Anreicherung von warmem Essen eignet sich hitzebeständiges Casein, für kalte Lebensmittel wie Quark, Cremes, Joghurt hitzelabile Molkeprodukte. «Diese Molke- oder Wheyprodukte enthalten auch die äusserst wertvolle Aminosäure Leucin, die die Muskelsynthese besonders stark antreibt.» Leucin sei in grossen Mengen zudem im Ricotta enthalten, da dieser aus Molke hergestellt werde.
Taiji und Dalcroze-Rhythmik
«Allein mit Whey-Getränken lassen sich in drei Monaten so viel Muskulatur aufbauen, wie der Körper in einem Jahr abbaut», sagte der Experte. Das Problem: Wird nur Muskel angegessen oder angetrunken, reduziert dies noch nicht die Sturzgefahr. Für eine Sturzprophylaxe braucht es regelmässige Bewegung.
Für Ältere am besten geeignet seien Taiji oder Rhythmik nach Jacques-Dalcroze. Doch nur Trainieren ist auch nicht die beste Lösung, um Muskelkraft aufzubauen und Stürzen vorzubeugen. «Deutlich effektiver und darum auch primär zu empfehlen ist die Kombination aus Bewegung und einem Eiweissgetränk täglich, wenn über die Nahrung nicht genügend Protein aufgenommen werden kann.»
Bei älteren Menschen häufig ist auch ein Mangel an Eisen und den Vitaminen D und B12. «Insbesondere bei Patienten mit Herzinsuffizienz, Wundheilungsstörungen sowie bei mehrheitlich liegenden oder sitzenden Personen sollten Hausärzte das Eisen regelmässig kontrollieren und einen Mangel behandeln», sagte der Geriater. Empfehlenswert sei auch das Vitamin D, das für Knochen und Muskeln wichtig ist, bei Patienten ab sechzig Jahren jeweils zwischen November und April mit täglich 800 IE/Tag zu supplementieren. Ein Vitamin-B12-Mangel werde zudem am besten mit einer subkutanen oder intramuskulären Gabe ausgeglichen. •
Quelle: Lifestream-Vortrag von Dr. Dieter Breil am Forum für Medizinische Fortbildung, 13. Mai 2020.