Selbst entscheiden

Mindestens einer von hundert Betagten scheidet heute in der Schweiz durch Sterbefasten vorzeitig aus dem Leben. Wer freiwillig auf Essen und Trinken verzichtet, erhofft sich ein sanftes Hinübergleiten in den Tod. Wie sieht die Realität aus?
Susanna Steimer Miller

Fürs Sterbefasten entscheiden sich mehrheitlich Menschen mit unheilbaren Krankheiten wie Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Sie wollen ihr Leben selbstbestimmt beenden, ohne dafür Medikamente einzunehmen. «Mehr als die Hälfte der Sterbewilligen sind über achtzig Jahre alt», sagt Sabrina Stängle, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Pflege an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. «Über ein Viertel der Sterbewilligen hat, ­abgesehen von Altersgebrechen, keine Vorerkrankungen. Häufig sind zunehmende Abhängigkeiten, die Angst vor dem Verlust der Autonomie oder die Einsamkeit ein auslösender Faktor», ergänzt die Pflegewissenschaftlerin. Im Gegensatz zur aktiven Sterbehilfe wird das Leben durch den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit nicht abrupt beendet.

Kein Spaziergang

«Sterbefasten darf nicht unterschätzt werden. Vor allem der starke Durst ist für viele ein grosses Problem», weiss Alois Haller, der als Chefarzt für Intensivmedizin am Kantonsspital Winterthur Sterbefastende betreut. Auch für Angehörige, Ärzte und Pflegende kann die Betreuung von Sterbefastenden eine Herausforderung sein. Medizinischen Fachpersonen fehlt es oft an der entsprechenden Ausbildung. Der Intensivmediziner dazu: «Als Arzt ist es meine Aufgabe, Leben zu erhalten. Durch Sterbefasten soll dieses vorzeitig beendet werden.»

Laut einer Studie, die unter der Projektleitung von André Fringer, Co-Leiter ­Master- & Forschung Pflege an der ZHAW, in 535 Alters- und Pflegeheimen durch­geführt wurde, kündigt nur etwa ein Viertel der Sterbewilligen ihr Vorhaben an. Sabrina Stängle, die an der Studie mitgearbeitet hat, sagt dazu: «Einige Sterbewillige verheim­lichen ihren Plan, weil sie befürchten, dass ihre Angehörigen sie verurteilen würden. Auch im Heim wird es manchmal nicht erkannt oder als Sterbeprozess interpretiert, obwohl es eine bewusste Entscheidung war.»

Sterben durch den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit ist in Heimen, Spitälern, Hospizen, aber auch zu Hause möglich. 

Das geschieht im Körper

Durch den Nahrungsentzug sinkt der Grundumsatz an Kalorien und der Stoffwechsel verlangsamt sich. Die Energie, die der Körper für die Erhaltung seiner Funktionen braucht, wird aus Energiespeichern gewonnen, die in Form von Kohlenhydraten, Proteinen und Fetten vorhanden sind. Die Krux am Sterbefasten ist das Überwinden des anfänglich starken Hunger- und Durstgefühls. «Während das Hungergefühl nach wenigen Tagen verschwindet, hält das Durstgefühl länger an», erklärt Alois Haller. Manche Sterbewillige fühlen sich in den ersten Tagen wach oder gar euphorisch. ­Danach folge eine Phase eines immer tiefer werdenden Schlafs, was viele als angenehm empfinden. «Mit der Zeit lassen sie sich kaum noch wecken und sind zunehmend geschwächt», weiss der Intensiv­mediziner. Der Nahrungs- und Flüssigkeitsentzug führt dazu, dass der Sterbe­willige austrocknet und letztlich an Nierenversagen stirbt.

Pflege ist essenziell

Für Menschen, die durch Sterbefasten aus dem Leben scheiden wollen, ist die Selbstbestimmung von zentraler Bedeutung. Um auf Nahrung und Flüssigkeit zu verzichten, braucht es mentale Stärke, denn der Weg ist steinig. Manche Sterbewilligen leiden in den ersten Tagen an Kopfschmerzen. Möglich sind auch Muskelkrämpfe und Bauchschmerzen. Aus diesem Grund sind Sterbende auf Betreuung angewiesen, um weniger zu leiden. Das Lutschen von Eiswürfeln kann zum Beispiel gegen die unangenehme bis schmerzhafte Mundtrockenheit helfen. «Werden die Beschwerden gelindert, kann Sterbefasten ein guter Weg in den Tod innert 14 Tagen sein», sagt Alois Haller. Manche Sterbewillige hören zu Beginn nur mit dem Essen auf, trinken aber weiter. Wird gleichzeitig auch konsequent auf die Aufnahme von Flüssigkeit verzichtet, reduziert sich die Dauer des Sterbeprozesses bei Schwerkranken laut dem Intensivmediziner auf fünf bis sieben Tage.

Begleitet in den Tod

«Menschen, die freiwillig durch Sterbefasten aus dem Leben scheiden wollen, sollten dies immer mit der Familie, dem Arzt und den Pflegefachpersonen besprechen», empfiehlt Sabrina Stängle. Denn während des Prozesses werden sie pflegeabhängig, zum Beispiel beim Umlagern oder beim Toilettengang. Alois Haller erklärt: «Sterbefasten führt irgendwann zur Bewusstlosigkeit. Wenn weder die Familie noch die Gesundheitsfachpersonen über den Wunsch des Patienten Bescheid ­wissen, kann es sein, dass der Bewusstlose bei Auffinden wiederbelebt oder in ein ­Krankenhaus eingewiesen wird.» Sind die ­Gesundheitsfachpersonen eingeweiht, können sie bei Symptomen, wie etwa Schmerzen, Medikamente verabreichen. Eine ­Absprache aller Involvierten ist auch ­wichtig, weil manche Sterbefastende in ein Delir geraten. Sabrina Stängle dazu: «Diese ­Situation kann für die Angehörigen sehr ­belastend sein. Es ist wichtig, dass alle ­Parteien an einem Strang ziehen – auch Angehörige brauchen Unterstützung.»

Ein Blick in die Zukunft

Viele Gesundheitsfachpersonen gehen ­davon aus, dass Sterbefasten an Bedeutung gewinnen wird. Sabrina Stängle dazu: «Das Wissen in der Bevölkerung über diese ­Option, dem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen, ohne Medikamente zu schlucken, hat in den letzten Jahren zugenommen. Auch Ärzte und Pflegende wissen immer besser Bescheid.» Ihre Mithilfe bleibt auch in diesem Fall gefragt. •