Kopfweh oder Migräne?

Migräne kann bei 12- bis 65-jährigen Menschen vorkommen. Typisch sind Symptome wie einseitige, pulsierende Kopfschmerzen, Licht- und Lärmempfindlichkeit sowie Übelkeit und Erbrechen. Körperliche Aktivitäten verschlimmern die Beschwerden. Die Schmerzen dauern vier bis 72 Stunden, bei Kindern unter 15 Jahren kürzer. Kopfweh und Migräne machen vielen Menschen das Leben zur Hölle. Jetzt gibt es neue Therapien.
Markus Meier

Dr. med. Reto Agosti

Sie sind ein sehr bekannter Kopfweh­spezialist, unter anderem auch wegen Ihrer Botox-Studien gegen Migräne. Wie kam es dazu?

Dr. med. Reto Agosti: Das war eine Zufallsentdeckung! Klientinnen von Dr. med. William J. Binder aus Los Angeles in den USA stellten nach gesichtskosmetischen Behandlungen erstaunt fest, dass dadurch nicht nur ihre Gesichtsfalten verschwanden, sondern auch Kopfschmerzen und ­Migräne. Diesen Effekt konnten wissenschaftliche Studien beweisen. Unsere Erfahrungen basieren auf zwei internatio­nalen Multicenter-Doppelblindstudien. An USA-europäischen Studien waren wir beteiligt. Die eine Studie wurde von sieben auf elf Monate verlängert, weil zahlreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Fortsetzung der Behandlung wünschten. Das unterstreicht die gute Wirkung! Nur ganz wenige Teilnehmer sind ausgestiegen. Das weist auf die gute Verträglichkeit hin. 

Wird denn Botox nun als Therapie gegen Migräne von den Krankenkassen rückvergütet?

In der Schweiz ist Botulinumtoxin für ­zahlreiche Anwendungen zugelassen, aber nicht gegen Migräne. Deshalb übernehmen die Krankenkassen die Medikamenten- und Behandlungskosten nur, wenn eine Kostengutsprache erteilt ist. Dies kann, je nach Kasse, aus der Grundversicherung oder Zusatzversicherung erfolgen – oder auch gar nicht. Die Akzeptanz seitens der Kassen für Botox gegen Migräne hat sich klar verbessert. Wohl nicht zuletzt durch unser unermüdliches Verfassen von Kosten­gutsprache-Gesuchen auf Wunsch unserer Patienten, die einen klaren Benefit von ­Botulinumtoxin haben. 

Wie häufig ist Migräne?

In der Schweiz leben mehr als eine Million Menschen, die Migräne aus persönlichem Leiden kennen. Es gibt zwei Formen: ­Mi­gräne mit und ohne Aura. Unter Auren versteht man visuelle Phänomene, beispielsweise mit hellen zackigen Formen, die 15 bis 60 Minuten lang funkeln, grösser werden, über das ganze Gesichtsfeld wandern und dann wieder verschwinden. Gleichzeitig können Gefühls- und Sprachstörungen auftreten. Migräne mit Aura kennen 15 bis 20 Prozent der Migräniker.

Was sind die Ursachen, welche Symptome treten auf?

Migräne ist eine körperliche Veranlagung, wie etwa ein Hauttyp oder eine Augenfarbe. Ob Migräneattacken auftreten, hängt von vielen Auslösern ab. Eine Stressreaktion des Körpers ist eine der häufigsten Auslösefaktoren – neben vielen anderen Triggern wie Alkohol, geändertem Schlafrhythmus oder Wetterwechsel. Es ist wichtig, sich dieser Faktoren bewusst zu werden. Das geht ­bestens, wenn man für sich selbst einen Kopfschmerzkalender führt, der dann mit den Kopfschmerzspezialisten analysiert werden kann.

Etwa 60 Prozent der Patienten haben Prodromi. Das sind spezielle Krankheitsvorläufer wie Heisshunger, sehr starkes Gähnen oder Stimmungsschwankungen, die Minuten bis Stunden vor der Attacke auftreten. In dieser Phase könnte man die bevorstehende Migräne mit einfachen Massnahmen und mit Komplementärmedizin kupieren. Eine Forschergruppe aus Hamburg hat gezeigt, dass MRI-Veränderungen im Gehirn als Prodromi auftauchen, noch bevor die Patienten merken, dass die nächste Attacke im Gange ist. 

Was gehört zu einer modernen Migränetherapie?

Die therapeutische Aufteilung in Attackenbehandlung und Attackenprävention hat sich weltweit bewährt. Für viele Leidende reicht es aus, die Attackentherapie gezielt anzuwenden. Meistens sind hier Medikamente gefragt, weil die komplementärmedizinischen Methoden zu langsam wirken und zu aufwendig sind. Bei der Prophylaxe werden Schul- und Komplementärmedizin angewendet. Wir empfehlen eine solche ­Basisbehandlung ab drei Tagen Migräne pro Monat. Die Einbusse der Lebensqua­lität sowie die Effizienz der Attackenbehandlung müssen dabei berücksichtigt werden. Die erfolgreiche Wahl der Behandlung braucht viel Erfahrung und erfordert eine sehr enge, oft auch langwierige Zusammenarbeit vom Kopfschmerzspezialisten mit dem Betroffenen. Sehr wichtig sind aber auch die nichtmedikamentösen Massnahmen wie zum Beispiel Verhaltensänderungen und regelmässige Aktivitäten im Freien.

Häufig werden sogenannte Triptane gegen Migräneattacken eingesetzt. Um die Anfallshäufigkeit zu reduzieren eigenen sich zum Beispiel Betablocker. Was tun, wenn diese Basistherapie nicht genügend wirkt? 

In Absprache mit dem Arzt lässt sich die Betablocker-Dosis erhöhen, wenn der Puls und der Blutdruck nicht schon zu tief sind. Als Prophylaxe eignen sich auch noch viele andere Medikamente wie zum Beispiel ­Magnesium oder der antikonvulsive Wirkstoff Topiramat mit einer Dosierung von 50 bis 200 mg pro Tag. Es ist auch einen Versuch wert, bei Unwirksamkeit das Triptan zu wechseln. Inzwischen gibt es sehr viel ­Produkte in dieser Substanzklasse: Der erste Wirkstoff, der entwickelt wurde, hiess Sumatriptan. Es folgten Zolmitriptan, ­Naratriptan, Eletriptan, Rizatriptan, Almotriptan und Frovatriptan – viele Chancen also. Diese Stoffe unterscheiden sich in der Wirkungsdauer und Wirkungscharakteristik. Zudem gibt es verschiedene Anwendungs- und Einnahmemöglichkeiten: ­Tabletten, Spritzen und verschiedene ­Nasalsprays, die rascher als die Tabletten wirken. Zur schnellen und rechtzeitigen Attackenbehandlung eignen sich auch Trinklösungen mit der Wirksubstanz ­Diclofenac. Sie sind vor allem bei leichten Migräneattacken mit oder ohne Aura empfehlenswert.

Bei Menschen mit Migräne fällt auf, dass sie oft auch andere Beschwerden wie Schlafstörungen oder Antriebs- und Energiemangel haben. Gibt Ihnen das einen Hinweis, welche Basistherapie funktionieren könnte?

Ja, gewiss! Bei Schlafstörungen haben sich die schon seit vielen Jahren bekannten, sogenannten trizyklischen Antidepressiva am besten bewährt. Gegen mangelnde Entscheidungsfreude könnte eher ein neueres Antidepressivum mit dem Wirkstoff Venlafaxin helfen, das tagsüber stimulierend wirkt. Man könnte auch Coenzym Q10 einsetzen, das der Bevölkerung als Bestandteil von kosmetischen Anti-Aging-Produkten bekannt ist. Q10 ist ein körpereigener Stoff und ein Coenzym, das an einem wichtigen Stoffwechselvorgang beteiligt ist, bei dem mehr als 95 Prozent der gesamten Körperenergie erzeugt wird. In letzter Zeit wird der Cannabis-Bestandteil CBD vermehrt eingesetzt, um den Schlaf zu verbessern. 

Mit dem von Novartis mitentwickelten Medikament Aimovig gibt es eine neue Therapieoption gegen Migräne. Was halten Sie davon?

Bei Patienten mit häufiger und stark belastender Migräne ist der Wirkstoff Erenumab für mich ein Durchbruch. Es zeigt eine sehr gute Wirksamkeit und macht kaum Nebenwirkungen. Unser Kopfwehzentrum war mit zehn Patienten an zwei Zulassungsstudien beteiligt, sodass ich den Effekt direkt mitverfolgen konnte. Ein Teil unserer ­Patienten erhielt in dieser Doppelblindstudie die Substanz Erenumab, der andere Teil ein Placebo. Beide Testgruppen zeigten kaum Nebenwirkungen. So etwas habe ich noch nie erlebt. Ebenso genial ist es, dass bei zehn bis zwanzig Prozent aller Teilnehmer dieser weltweiten Studie dank der monatlichen Spritze die Migräneattacken auf null zurückgingen. Aimovig muss alle dreissig Tage mit einem Pen gespritzt werden, um die Wirksamkeit sicherzustellen. Das Medikament heilt die Migräne also nicht, es greift lediglich in den Entstehungsprozess der Attacken ein und bremst ihn. Die neue Therapie hilft aber nicht allen Patienten. Es ist zudem sehr erstaunlich, dass wir Patienten hatten, die schon innerhalb der 36-monatigen Studienzeit das Mittel ganz absetzen konnten, weil sie auch ohne Spritze für längere Zeit keine Migräneattacken mehr erlitten.

Was ist bei der Migräne von Frauen anders?

Um Migräne zu verstehen, muss man wissen, dass es sich nicht um ein einheitliches Leiden handelt, sondern um einen Kopfschmerztyp mit bestimmten Begleiterscheinungen. Dies ist bei Männern und Frauen gleich. Anders bei Frauen ist, dass sich die Attacken um die Menstruation häufen und dass die Attacken in der Schwangerschaft verschwinden. Die Ur­sachen dafür liegen in den starken Schwankungen der weiblichen Geschlechts­hormone im Zyklus und rund um die Schwangerschaft. Mütter stehen in der ­Regel ihren Kindern im Alltag näher, ­reagieren stärker auf deren alltägliche ­Sorgen – sieben Tage pro Woche. Dies dürfte die höhere Häufigkeit der Migräne bei Frauen miterklären. 

Wie erklären Sie sich, dass eine Frau während der Schwangerschaft plötzlich keine Migräne mehr hat?

Es ist natürlich naheliegend zu vermuten, dass in diesem Fall die Hormone dafür verantwortlich sind, dass diese Patientin ­mi­gränefrei bleibt. Doch es gibt leider auch den umgekehrten Effekt. Bei gewissen Frauen tritt die Migräne nur während der Schwangerschaft auf. Eine Schwangerschaft bedeutet wie in diesem Beispiel aber oft auch «Schonzeit». Dies und die Freude am werdenden Kind kann sich positiv auf die ­Migräne auswirken.

Welche speziellen Tipps haben Sie für Frauen?

Bei der genauen Abklärung steht, wie oben erwähnt, ein sorgfältig geführter Kopfschmerzkalender im Vordergrund, in den auch der Menstruationszyklus eingetragen wird. Er ermöglicht es, das gemeinsame Auf‌‌treten von Migräne im Zyklus zu studieren und Muster zu erkennen. Falls ein relativ eindeutiges Zusammentreffen vorhanden ist, kann eine hormonelle Behandlung beziehungsweise Anpassung einer solchen Therapie sinnvoll sein. Diese ­erfolgt am besten, indem Kopfschmerz­spezialist und Gynäkologe zusammenarbeiten. Komplementärmedizinisch wird oft Mönchspfeffer angewendet – ein guter Tipp für Frauen! Und dass man mens­truelle Migräneattacken unverzüglich ­behandelt, da die Attacken mit jeder ­Menstruation ja ohnehin auf‌treten und bei ­verzögerter Behandlung schlimmer sein werden.