Engpässe – wo bleiben die Medikamente?

Im Jahr 2019 kam es bei rezeptpflichtigen und rezeptfreien Medikamenten 3223-mal zu Lieferschwierigkeiten. Damit hat sich die Zahl der Engpässe seit 2016 mehr als verdoppelt. Was steckt hinter dem Problem und welche Konsequenzen hat dies für die Patienten?
Susanna Steimer Miller


Wenn ältere Patienten aufgrund von Lieferengpässen plötzlich von einer roten Pille auf ein grüne wechseln müssen, führt dies zwangsläufig zu Verunsicherungen.»

Mitte Dezember waren über 700 Me­di­kamente in der Schweiz nicht lieferbar. Apothekerinnen und Apotheker sind täglich mit dieser schwierigen Situation kon­frontiert. Enea Martinelli, Spitalapotheker der Spitäler Frutigen, Meiringen, Interlaken und Initiator der Website www.drugshortage.ch, beobachtet eine Verschärfung des Problems. «Heute fehlen Medikamente nicht nur in Spitälern, sondern immer häufiger auch für chronisch Kranke, die zum ­Beispiel an Bluthochdruck, Epilepsie oder Parkinson leiden. Probleme zeichnen sich auch bei der Versorgung von Diabetes-­Patienten ab.» Während Martinelli bei der Akuttherapie im Spital vor der Behandlung improvisieren und auf Ersatzmedikamente ausweichen kann, müssen Patienten mit chronischen Erkrankungen oft sehr kurzfristig umgestellt werden. Diese Patienten melden sich meist erst dann in der Apotheke oder beim Arzt, wenn ihre Medikamentenpackung fast leer ist. Das sei eine grosse Herausforderung, weiss Martinelli.

Lange Liste

Heute fehlen in der Schweiz Medikamente in fast allen Indikationsgebieten. Die Palette reicht von Krebsmedikamenten bis zu Präparaten, die in der Pädiatrie eingesetzt werden. Selbst an Impfstoffen und lebensnotwendigen Medikamenten mangelt es immer wieder. Mit dieser Situation steht die Schweiz nicht allein da. Enea Martinelli dazu: «Das Management der Lieferengpässe gehört heute in den meisten Schweizer Spitalapotheken und Offizinapotheken zum Alltag und ist enorm zeitaufwendig.» Manche Spitäler beziehen die fehlenden Medikamente aus dem Ausland.

Preissenkungen mit Folgen

Von den Lieferproblemen sind in der Schweiz auch viele Generika betroffen. Axel Müller vom Verband Intergenerika erklärt, weshalb das so ist: «Innerhalb der letzten 10, 15 Jahre haben sich die Preise von Generika aufgrund der zahlreichen, vom Bundesamt für Gesundheit angeordneten Preissenkungen halbiert.» Der Kostendruck sei enorm und habe dazu geführt, dass sich Anbieter gezwungen sehen, Lager zu verkleinern oder nicht rentable Präparate vom Markt zu nehmen. «Die Schmerzgrenze ist bald erreicht», ergänzt Axel Müller. Als Beispiel nennt er den Ex-factory-Preis für eine Zehnerpackung Mephadolor®, ein Generikum zu Ponstan, die gerade noch 1.28 Franken kostet, also deutlich weniger als eine Packung Kaugummi.

Tücken der Globalisierung

Der in den letzten Jahren ständig ausgeübte Druck auf die Medikamentenpreise führte zu einer Verlagerung der Produktion vieler Wirksubstanzen nach Asien. Fabian ­Vaucher, Präsident des Schweizerischen Apothekerverbandes pharmaSuisse: «Der weltweite Wirkstoffmarkt wird zunehmend monopolistisch von wenigen Herstellern in ­Indien und China beherrscht.» Dadurch wandert Know-how in den asiatischen Raum ab und es entwickeln sich Abhängigkeiten. So haben Produktionsausfälle, die in China und Indien wegen Bränden, Schliessungen aufgrund von Qualitätsproblemen oder Naturkatastrophen häufig auf‌­treten, schnell eine Wirkung auf die Ver­sorgung in der Schweiz. Axel Müller beobachtet, dass Wirkstoffe, die nach Wochen wieder lieferbar sind, heute eher in bevölkerungsreiche Länder mit steigender Kauf‌kraft, zum Beispiel nach Indonesien oder China, geliefert werden. Der Schweizer Markt ist aufgrund seiner mangelnden Grösse oft einer der ersten, der unter ­Lieferengpässen leidet. Fabian Vaucher: «Da die Schweiz nicht mehr in der Lage ist, ihre eigenen Antibiotika und Impfstoffe herzustellen, stellt sich im Fall einer Pandemie die Frage der Versorgungssicherheit ganz konkret.»

Konsequenzen für Patienten

Die zahlreichen Engpässe bereiten den Apothekerinnen und Apothekern Sorgen. Fabian Vaucher weiss: «Viele Patienten verstehen nicht, weshalb sie auf andere Medikamente oder andere Dosierungen umsteigen müssen.» Für chronisch erkrankte ­Patienten ist jeder Wechsel eines Medi­kamentes schwierig. Der Spitalapotheker Enea Martinelli stellt fest: «Wenn ältere ­Patienten aufgrund von Lieferengpässen plötzlich von einer roten Pille auf ein grüne wechseln müssen, führt dies zwangsläufig zu Verunsicherungen.» Das wirke sich ­nega­tiv auf die Therapietreue aus. Ausserdem berge jeder Medikamentenwechsel das ­Risiko einer Falscheinnahme.

Folgen für das Gesundheitswesen

Zu Lieferengpässen kommt es bei vielen breit eingesetzten und günstigen Medikamenten. Laut Enea Martinelli führt zum Beispiel der Mangel an Medikamenten gegen Bluthochdruck aus der Wirkstoffgruppe der Sartane dazu, dass vermehrt auf teurere Blutdrucksenker ausgewichen werden muss. Das treibe die Gesundheitskosten weiter in die Höhe.

Generell sind Präparatewechsel bei chro­nisch kranken Patienten heikel. Axel Müller: «Erfahrungen aus Deutschland, wo Patienten aufgrund des Referenzpreis­systems immer wieder auf günstigere ­Medikamente wechseln müssen, haben ­gezeigt, dass häufige Wechsel zu mehr Arztkonsultationen und Hospitalisationen führen.» Auch das schlage sich in den ­Gesundheitskosten nieder. 

Forderungen der Apotheker

Heute müssen Pharmaunternehmen das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung nur dann über Lieferschwierig­keiten informieren, wenn Medikamentenengpässe lebenswichtige Substanzen betreffen. Andere Meldungen sind freiwillig. In einer Mitteilung vom 16. Dezember 2019 fordert der Schweizerische Apothekerverband pharmaSuisse, dass alle Zulassungsinhaber verpflichtet werden müssen, schneller und detaillierter über alle nicht verfügbaren Medikamente der Spezialitätenlisten zu informieren. Für Medikamente von hohem therapeutischem Wert oder ohne Substitutionsmöglichkeiten sollen die Hersteller Pflichtlager schaffen. Weiter fordert der Verband, dass gesetzliche Grundlagen für Exportbeschränkungen geschaffen werden, wenn dies zum Schutz der einheimischen Versorgung notwendig sei. In Ländern wie Italien oder Grossbritannien ist es Grosshändlern untersagt, Medikamente zu exportieren, wenn im eigenen Land ­Knappheit herrscht. Da die aktuellen Lieferengpässe in jeder Offizinapotheke zu einem täglichen Mehraufwand von einer bis zwei Stunden im Schnitt führen, fordert pharmaSuisse auch eine Entschädigung für diese Arbeit.

Nicht zu Tode sparen

Axel Müller vom Verband Intergenerika warnt davor, dass die Einführung des Referenzpreissystems die Situation weiter verschärfen würde. «Dieses System würde dazu führen, dass die Preise von Generika um weitere 10 bis 30 Prozent sinken.» Da könnten nur noch die beiden grossen Schweizer Anbieter längerfristig mithalten. Für die Versorgungssicherheit und einen gesunden Medikamentenmarkt sei Wettbewerb jedoch wichtig.

Asiatische Wirkstoffhersteller würden ihre Produkte noch weniger in die Schweiz liefern, weil sie in anderen Märkten bessere Preise erzielen können. Axel Müller plädiert dafür, lebensnotwendige Medikamente wieder in Europa herzustellen. ­Damit dies möglich sei, dürfen Politiker und das Bundesamt für Gesundheit aber nicht weitere Massnahmen fordern bzw. umsetzen, die die Versorgung mit Medi­kamenten in der Schweiz gefährden. Auch Enea Martinelli wünscht sich eine differenzierte Diskussion, wenn es um den Preis von Medikamenten geht.