Demenz: Vorsichtiger Optimismus

In der Schweiz werden jährlich rund 29 500 neue Demenzfälle registriert. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, wie aus winzigen Aggregationskeimen sehr lange vor Ausbruch der ersten Symptome immer grössere Komplexe aus Amyloid- oder Tau-Proteinen im Gehirn entstehen. Diagnostische Biomarker und neue therapeutische Optionen lassen vorsichtigen Optimismus zu.
Klaus Duffner

Mit Hirnscans lässt sich eine Alzheimererkrankung oft viele Jahre vor deren Ausbruch entdecken. Die frühzeitige Alzheimererkennung ist wichtig, da Fachleute davon ausgehen, dass zukünftige Medikamente möglichst früh eingesetzt werden müssen.

Nach Angaben von Alzheimer Schweiz ­leben in der Schweiz derzeit rund 155 000 Menschen mit einer Demenzerkrankung. Davon gehören 99 Prozent zur altersbedingten «sporadischen» Form, nur etwa ein Prozent aller Alzheimer-Fälle ist erblich bedingt. Trotzdem sind es vor allem diese Frühformen, von denen man in den vergangenen Jahren sehr viel gelernt hat. ­Ihnen gemeinsam ist eine familiäre auto­somal dominante Mutation eines von drei Genen: des Presenilin-Proteins 1 (PSEN1), des Presenilin-Proteins 2 (PSEN2) oder des Amyloid-Precursor-Proteins (APP). Bei Trägern dieser Gene kommt es zu einer Akkumulation von Amyloid- respektive Tau-Proteinen im Gehirn und in 100 Prozent der Fälle zu einem frühen Ausbruch der Alzheimer-Demenz (AD), im Schnitt mit 45 Jahren. Tübinger Wissenschaftler um den Schweizer Prof. Dr. Mathias Jucker haben spezielle Mäuse gezüchtet, die solche Gene in sich tragen und entsprechende Proteine im Gehirn bilden und einlagern. Die Tiere sind damit extrem wichtige «Werkzeuge» bei der Erforschung der ­Erkrankung.

Aggregationskeime als Ausgangspunkte

Ob nun bei solchen seltenen familiären Formen oder bei den viel häufigeren altersbedingten Erkrankungen: Die meisten ­Alzheimerforscher sind sich einig darüber, dass der Beginn der Alzheimerkrankheit mit der Anhäufung dieser beiden pathologischen Proteine, nämlich der Tau-Proteine in den intrazellulären neurofibril­lären Bündeln und der extrazellulären β-Amyloid-Plaques im Gehirn verbunden ist. Dem ­voraus geht ein Prozess, dessen Ursachen unbekannt sind: Die normalerweise immer nach einem festen Muster zusammenge­legten Proteine sind plötzlich fehlgefaltet. An diese «verdrehten Eiweisse» lagern sich gesunde Proteine an, wodurch immer grössere Proteinkomplexe entstehen. Haben sie einen gewissen Umfang erreicht, kommt es zu einer Fragmentierung und es entstehen in benachbarten Zellen neue Aggregationskeime. Gleichzeitig nimmt dieser Akkumulationsprozess an Geschwindigkeit zu. Bemerkenswerterweise sind diese Auslöser übertragbar: Werden Aggregationskeime in Gehirne gesunder Mäuse injiziert, zeigen diese nach wenigen Monaten ebenfalls Amyloidansammlungen. Die pathologischen Prozesse folgen dann einem zeitlichen Muster: Erst nachdem die Amyolid-β-Aktivität nach Jahren ein maximales Plateau erreicht hat, sind – zuerst beschwerdefrei – auch neurodegenerative Ver­än­derungen festzustellen. Die eigent­lichen Symptome einer Alzheimererkrankung in Form leichter kognitiver Defizite erscheinen dann erst 10, 20 oder gar 25 Jahre nach Beginn der Amyolid-β-Aktivität.

Biomarker ermöglichen Vorhersage

Derzeit wird intensiv an Biomarkern ­geforscht, die im Blut auf eine kommende Alzheimererkrankung hindeuten. Sie können schon weit über zehn Jahre vor Ausbruch der Erkrankung eine Vorhersage ermög­lichen. Gerade in den Nachweis von Amyloid-β wird grosse Hoffnung gelegt. So wurden in einer Studie bei unauffälligen Teilnehmern fehlgefaltete Amyloide im Blut gefunden und 8 bis 14 Jahre danach Ablagerungen dieser Proteine im Gehirn festgestellt, erklärte Ende vergangenen ­Jahres Prof. Dr. phil. Andreas U. Monsch am 7. Demenzforum in Basel. Bei den ­Patienten mit AD-Diagnose waren zu 71,4 Prozent solche fehlgefalteten Proteine Jahre zuvor detektiert worden, während dies bei Gesunden nur zu elf Prozent der Fall war. Auch die sogenannten Neurofilament-(NFL-)Marker sind sowohl bei den seltenen genetisch bedingten Frühformen als auch bei den sporadischen Fällen lange Zeit vor den ersten Symptomen in hoher Konzentration nachweisbar. Allerdings steigt der NFL-Marker auch bei anderen neurologischen Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose an, sodass nicht genau zu unterscheiden ist, zu welcher Krankheit der ­höhere NFL-Spiegel einmal führen wird. Möglicherweise kann eine Kombination aus Amyloid-β und NFL hier weiterhelfen: Amyloid-β um zu sehen, ob es sich tatsächlich um eine Alzheimererkrankung handelt und NFL, um vorherzusagen, welcher Verlauf zu erwarten ist. Mit der Verfügbarkeit solcher Tests wird bereits in zwei bis drei Jahren gerechnet. 

Frühe Diagnose ohne Wert? 

Was nützt jedoch die sehr frühe Gewissheit, in Zukunft an der Alzheimererkrankung zu erkranken, wenn keine Möglichkeit besteht, die Krankheit aufzuhalten? Tatsächlich sind derzeit noch keine wirkungsvollen Medikamente verfügbar, die das Voranschreiten einer Alzheimererkrankung im breiten Umfang stoppen könnten. Trotzdem sind solche Vorher­sagen nicht umsonst. Denn Fachleute gehen davon aus, dass zukünftige Substanzen möglichst früh eingesetzt werden müssen, um die Proteinanlagerung bei Risiko­patienten von vornherein zu verhindern. Tatsächlich richten sich die beiden wichtigsten Ansätze für eine kausale Alzheimer­therapie gegen die beiden beschriebenen Proteine, nämlich β-Amyloid-Plaques und die intrazellulären neurofibrillären Bündel. So wird schon seit einigen Jahren versucht, mit spezifischen Antikörpern die pathologischen Proteine zu eliminieren. Tatsächlich lässt sich durch den Einsatz solcher Antikörper eine Reduktion des Amyloids im Gehirn der Erkrankten beobachten. ­Allerdings war in den entsprechenden ­Studien trotz dieser Effekte keine Stabili­sierung der Kognition der Patienten fest­zustellen. So mussten die «Generation-­Studien» wegen Erfolglosigkeit abgebrochen werden, in die Menschen mit erhöhtem Risiko für sporadische Alzheimer­erkrankung (Beginn nach dem 65. Lebensjahr) eingeschlossen worden waren. 

Hoch dosierter Antikörper doch wirksam? 

Spannend wurde es jedoch vor zwei Jahren, als in einer Phase-II-Studie gezeigt werden konnte, dass es durch einen dieser Antikörper (Aducanumab) nicht nur zu einer Reduktion der Plaques, sondern auch zu einer kognitiven Stabilisierung kam, ­berichtete in Basel Prof. Dr. med. Thomas Leyhe von der Universitären Altersmedizin Felix ­Platter und dem Zentrum für Alterspsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Allerdings war dieser Effekt in zwei nachfolgenden Phase-III-Studien statistisch kaum mehr nachweisbar und die Herstellerfirma Biogen brach die Studie ab.

Damit war die Geschichte jedoch noch nicht zu Ende, denn nach dem Stopp wurde den Teilnehmern angeboten, mit dem ­Medikament weiterzumachen. Die Analyse eines grösseren Datensatzes offenbarte dann doch noch eine Wirksamkeit der Substanz, sodass die Firma jetzt überraschenderweise eine Zulassung beantragen will, sagte der Basler Psychiater. Tatsächlich war die Verminderung der geistigen Leistungen im Vergleich zur Placebo-Gruppe in der Hochdosis-Gruppe (nicht jedoch Patienten mit niedrigeren Dosierungen) um signifikante 23 Prozent geringer.

Auch eine zusätzliche ITT-Analyse ­sowie die Ergebnisse der sekundären Endpunkte brachten Vorteile in der Hochdosis-Gruppe. Die schon mit anderen Antikörpern gemachte Beobachtung, dass nämlich das Amyloid-β-Protein durch Aducanumab dosisabhängig reduziert wird (sowie das als spezifischer Biomarker einsetzbare Phospho-Tau-Protein), konnte in beiden Studien ebenfalls bestätigt werden. Zudem war der Antikörper gut verträglich, wobei durchaus Nebenwirkungen wie Ödeme oder vaskuläre Schwierigkeiten auftraten. «Damit besteht die Hoffnung, dass erstmals eine Therapie zur Verfügung stehen wird, mit der zumindest bei einem Teil der ­Patienten kausal in den Krankheitsprozess eingegriffen werden kann», freute sich Leyhe. Allerdings seien noch viele wichtige Fragen offen, beispielsweise zur Dosierung oder zum richtigen Zeitpunkt des Behandlungsbeginns. Auch verschiedene andere Antikörper (z. B. Solanezumab, Gantenerumab) werden derzeit zur Therapie von AD getestet. So screenen Forscher für die US-amerikanische «A4-Study» über 50-jäh­rige Personen, um sie bei einer ­erhöhten Amyloidkonzentration mit Antikörpern prophylaktisch zu behandeln.

In China ist zudem kürzlich die Sub­stanz Oligomannat-Natrium zur Behandlung von Alzheimer zugelassen worden. Die Substanz soll ein Ungleichgewicht der Darmflora wieder in Ordnung bringen und die Bildung von entzündlichen Substanzen verhindern. Dadurch werden, so die ­Theorie, die inflammatorischen Prozesse im Gehirn und die Akkumulation von Amyloiden respektive die Tau-Pathologien reduziert. Man müsse abwarten, was aus dieser Substanz werde, so der Basler ­Spezialist; eine Zulassung in dieser Form sei in Europa und den USA ohne zusätz­liche Studien nicht zu erwarten.

Prävention durch gutes Hören

Nach vielen Jahren ergebnisloser und oft frustrierender Therapieforschung scheint sich derzeit in der Therapie der Alzheimerkrankheit etwas zu bewegen: «Wir sind momentan gespannt, denn jetzt zeigen sich erste Signale, die uns in die Lage versetzen könnten, in den Erkrankungsprozess unserer Patienten tatsächlich kausal einzugreifen», erklärte Leyhe. Auch die Prävention der Alzheimerkrankheit ist derzeit ein ­aktuelles Thema. So ist mittlerweile anerkannt, dass eine Reihe modifizierbarer Faktoren das Demenzrisiko signifikant reduzieren, darunter bemerkenswerterweise gute Bildung, gutes Hören und die Verhinderung sozialer Isolation im Alter. Daneben können die Regulation des Blutdrucks, gute Diabeteseinstellung, die Verminderung des Körpergewichts und die Behandlung von Schilddrüsenerkrankungen und Depressionen ebenfalls kognitive Störungen verbessern. Tatsächlich sind gemäss einer Studie aus dem Jahr 2017 mehr als ein Drittel der Demenz-Risikofaktoren beeinflussbar. Daher sei es enorm wichtig, behandelbare Ursachen nicht zu übersehen, so der Fachmann. Bei Verdacht auf «Demenzerkrankung» solle daher immer eine präzise Diagnose beim Spezialisten ­erfolgen.