Dank Krise im Aufwind

Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen   Am ersten virtuellen Kongress – dem e-healthcare Circle – beleuchteten am 25. und 26. Juni insgesamt 15 Referentinnen und Referenten das Thema «Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen – sind wir bereit?» aus verschiedensten Blickwinkeln.
Christina Bösiger


Die Feedbacks zum ersten e-healthcare Circle online und in der Rehaklinik Bellikon waren durchs Band weg positiv.

Ob in der Gesundheitswirtschaft, in der Medizin, der Pflege oder der Versorgung – die Digitalisierung schreitet in allen Bereichen des Gesundheits­wesens rasant voran. Doch wie wirkt sich der technologische Fortschritt in den einzelnen Fachgebieten aus? Kann man ihn fassen, einordnen, standardisieren, vernetzen? Wo stehen wir heute? Wo sind die Chancen, Risiken, Grenzen und ­zukünftigen Herausforderungen? Dieser Themenvielfalt stellten sich die hochkarätigen Referentinnen und Referenten aus verschiedenen Ländern im virtuell durchgeführten Kongress. Dieser wurde unter der ­Organisation von MediCongress GmbH live aus der Rehaklinik ­Bellikon an die Teilnehmenden im Homeoffice oder an ihren Arbeits­platz übertragen. Dabei konnten diese aus bis zu drei simultan stattfindenden Symposien auswählen und sich während der Referate ­aktiv per Chatfunktion einbringen. So verhalfen die insgesamt 15 Referate und Symposien den Teilnehmenden zu einem vertieften Überblick der Ist-Situation im heutigen Gesundheitswesen. Präsentiert wurden Best-Practice-Beispiele aus den Bereichen ­digitale Gesundheitswirtschaft, künst­liche Intelligenz und Entscheidungsfindungen in der Medizin, Cyber-Defence – quo vadis bis hin zu Lösungen rund um die Digitalisierung und künstliche Intelligenz in Spitälern, die integrierte Versorgung sowie die Digitalisierung in der ambulanten Pflege. Als Gastredner ging Regierungsrat Jean-Pierre Gallatti, Gesundheitsdirektor des Kantons Aargau, auf die Möglichkeiten und damit verbundenen ­Herausforderungen des tech­nolo­gischen Fort­schritts ein. Für das wissenschaftliche Pro­gramm zeichnete Gesund­heits­öko­nom Dr. Willy Oggier verantwortlich.

Technologiefirmen drängen auf den Markt

«Die digitalen Technologien haben ein grosses finanzielles Potenzial», sagte Prof. Dr. Elke Klein, Dozentin für das Lehrgebiet digitale ­Gesundheitswirtschaft an der Hochschule Hamm-Lippstadt, zu Beginn des Anlasses. Sie zeigte auf, dass einerseits immer mehr Technologieunternehmen wie bei­spielsweise Amazon, Apple, Google oder Microsoft auf den Markt drängen und den Wandel im Gesundheitswesen mit hoher Geschwindigkeit vorantreiben. Andererseits habe die ­Corona-Krise gezeigt, dass der plötzliche Wegfall der üblichen – physischen – Versorgungsprozesse und Kommunikationskanäle die Patienten und Leistungserbringer praktisch über Nacht zur Nutzung digitaler Alternativen gezwungen hat. Das hat die Digitalisierung weiter beschleunigt: Während ­dieser Zeit sind nicht nur die ­Akzeptanz und Nutzung digitaler Versorgungsangebote (z. B. Video-Sprechstunden) plötzlich rasant angestiegen, sondern auch die Politik hat innerhalb weniger Tage ­reagiert und gezeigt, dass sie in der Lage sein kann, bürokratische ­Hürden abzubauen sowie Vergütungsregelungen schnell und flexibel anzupassen. «Die Tools und die Infrastruktur sind verfügbar und die meisten wollen sie auch nutzen», schloss Dr. Elke Klein ihr ­Referat. Nun liege es an den Gesundheitsanbietern und Leistungserbringern, mit innovativen, smarten und integrierten Versorgungsprozessen ihre Steue­rungshoheit zu behaupten.

Künstliche Intelligenz im Wandel

Um künstliche Intelligenz (KI) und Entscheidungsfindungen in der Medizin ging es im Vortrag von Dr. Georg Dorffner, Institut für ­Artificial Intelligence & Decision Support, Medizinische Universität Wien. Er zeigte auf, wie sich die neuronalen Netze im Wandel der Zeit verändert haben und präsentierte Beispiele, wie KI heute zur ­Erkennung von Melanomen und Tumoren eingesetzt wird. Doch ist so eine KI vertrauenswürdig? «Das KI-System kann besser sein als ­Experten», sagte Dorffner. Es gebe keinen Grund, solch einem System zu misstrauen, sofern die letztgültige Entscheidung beim Menschen liege und gesichert sei, dass die Daten alle Fälle abgedeckt haben. Ausserdem dürfe nur die reduzierte Aufgabe der «Befundung» dem ­KI-System überlassen werden. ­KI-Systeme seien sehr eingeengt: «Neuronale Netze lernen komplexe Zusammenhänge zwischen Input- und Outputdaten. Diese Daten sind meist aus einer engen Domäne und müssen diese gut und repräsentativ abdecken. Bei allem, was darüber hinausgeht und die Verknüpfung verschiedener Domänen erfordert, stossen sie noch auf Grenzen, das heisst, sie können kein ‹Reasoning›, keine kontextunabhängigen Repräsentationen, machen.» Kann KI den Arzt oder die Ärztin zukünftig ersetzen? «Nein, KI erlaubt zwar erstaunliche Bild- und Signalanwendungen bezüglich diagnostischer Interpretationen und Befundungen, doch die Systeme als Ganzes sind von wahrer, genereller Intelligenz noch weit entfernt», ­erklärte Dorffner weiter. «Es bleibt noch viel Raum für menschliche Intelligenz.»

Was nutzt mir das?

In der Euphorie des Digitalisierens komme oft die einfache Frage zu kurz: «Was nutzt mir das?», begann Marcel Napierala, CEO der Medbase Gruppe, sein Referat und ­erklärte, dass es darum gehe, ein neues Verständnis von digitalem Nutzen zu entwickeln, das sich nicht am Stand der Technik orientiere, sondern an den Bedürfnissen der Menschen, die damit zu tun ­haben. Darüber herrschte auch ­Einigkeit bei den anderen Referentinnen und Referenten. Im Rahmen der diversen Vorträge wurde unter anderem auch deutlich, dass die Technologie alleine nicht ausreicht, um das Gesundheitswesen auf die digitale Zukunft auszurichten. Neben den damit verbundenen ethischen Fragestellungen spielt unter anderem das Commitment aller beteiligten Akteure eine Rolle: «Digitalisierung ist immer auch eine Frage der Unternehmenskultur», sagte Dr. Gianni Rossi, CEO der Rehaklinik Bellikon, während seiner Rede. «Die Mitarbeitenden müssen sie mittragen, Mut bewei­sen und bisherige Prozesse durch­brechen, damit eine grundlegende Veränderung möglich ist. Ohne den Willen und die indi­viduellen Digital Skills der Mitarbeitenden geht es nicht. Wenn wir unseren Weg aber konsequent weitergehen, können unsere ­Patienten in vielerlei Hinsicht profitieren, beispielsweise mittels Tele­medizin.» Und diese findet im Rahmen der Kooperation der Rehaklinik Bellikon und des ­Universitätsspitals Zürich bereits regelmässig statt und wurde innert kurzer Zeit ein nicht mehr wegzudenkender Teil der integrierten Versorgung zwischen Akut­spital und Rehabilitationsklinik.

Fazit: Die Digitalisierung spielt in vielen Bereichen des Schweizer Gesundheitswesens zunehmend eine wichtige Rolle. Die Leistungserbringer und Gesundheitsan­bieter ­sowie auch die Kunden sind bereit für smarte Lösungen, denn sie ­bieten neben zahlreichen Vorteilen und ­effizienteren Prozessen auch die Möglichkeit, die Wirtschaftlichkeit zu steigern, um in einem kompetitiven Markt langfristig ­bestehen zu können. Gleich­zeitig gilt es für alle Marktteilnehmer, die ­nötigen Kompetenzen bezüglich Digi­­talisierung auf- und auszubauen und inno­vative Geschäftsmodelle zu ent­wickeln, welche die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten und den Einsatz neuer Technologien ins Zentrum stellen.

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