Bienenstiche – und viele Fehler

Im Frühjahr und Sommer die Bienen, im Herbst die Wespen – es gibt viele Gelegenheiten, sich einen Insektenstich einzufangen. Solche Stiche sind zwar schmerzhaft, aber in den allermeisten Fällen harmlos.
Manche Menschen reagieren jedoch mit einem anaphylaktischen Schock. Dann kann es gefährlich werden, wie unser Bericht zeigt.

Klaus Duffner

Wer Waldhonig möchte, sollte seine Bienen in den Wald bringen. Das geschieht meist in der Dämmerung, damit vor dem Transport alle Tiere von ihren Sammelflügen wieder in ihren Stock heimkehren können. Ganz wichtig: Die Einfluglöcher der Bienenkästen müssen vor der Fahrt gut verschlossen sein. Und an diesem Punkt hatten Detlev Eyssell und sein Imkerkollege Pech: Ein Holzkeil war locker geworden, sodass plötzlich wütende Bienen hinausströmten, um ihren Bienenstock zu verteidigen. Noch ­bevor der Kasten im Transporter war, kassierten die beiden Hobbyimker zahlreiche Stiche in Kopf und Oberkörper. Nachdem sie das Loch verschlossen hatten, fuhren die beiden in Richtung Bergwald. Zwar wunderte sich der rüstige Rentner über den bald einsetzenden Juckreiz an Armen und Bauch sowie etwas später auch über ein leichtes Taubheitsgefühl an den Lippen, aber das war «nicht der Rede wert».

Erste Symptome schon nach wenigen Minuten

«Das sind die typischen ersten Symptome einer anaphylaktischen Reaktion», sagt Prof. Dr. Jürgen Grabbe von der Abteilung Dermatologie und Allergologie am Kantonsspital Aarau. «Ein solches Kribbeln kann auf der Kopfhaut, an den Händen, Füssen und anderswo auftreten.» Auch Schwellungen, Rötungen, Augentränen oder Kopfschmerz gehören zu den ersten allergischen Reaktionen. Sie sind bei Bienenstichen zumeist schon innerhalb von Minuten, spätestens jedoch bis nach einer Stunde zu beobachten. «Solche Warnsymptome sollte man auf jeden Fall ernst nehmen, denn es besteht die Gefahr, dass sich die Situation schnell zuspitzt», so Grabbe. Tatsächlich stellte sich bei Eyssell während der Fahrt ein Druckgefühl in der Brust ein, allerdings ohne dass er echte Atemnot verspürte. Aus diesem Grund setzten die beiden Bienenfreunde ihren Transport fort. «Spätestens an diesem Punkt hätte sofort ein Notarzt verständigt werden müssen», erklärt der Aarauer Allergologe. Der hätte einen Blutdruckabfall, eine Zunahme der Pulsfrequenz und weitere Symptome feststellen können. 

Insektengiftallergien entstehen durch eine Überreaktion unseres Immunsystems. Treten Anzeichen einer Anaphy­laxie auf, sollte sofort der Notarzt verständigt werden. Sonst kann es böse enden: In der Schweiz verlieren jährlich drei bis vier Menschen durch Insektenstiche ihr Leben.

Bei Bienen- wird im Gegensatz zu Wespenstichen der weiter autonom pumpende Stechapparat des Insekts mit herausgerissen. Daher ist zumeist auch deren Stich intensiver.

Blutdruckabfall durch Gefässerweiterung 

Ein solcher allergischer Schock kann auftreten, wenn der Körper eine eigentlich harmlose Substanz als ein vermeintlich gefährliches Allergen erkennt. Dies führt zu einer schweren Überreaktion des Immunsystems, die klassischerweise mit der Bildung von Antikörpern des IgE-Typs beginnt. Der Unterschied zu gewöhnlichen allergischen Reaktionen (z. B. bei Heuschnupfen) ist die Freisetzung sehr grosser Mengen an Botenstoffen durch Mastzellen und basophile Granulozyten (bestimmte weisse Blutkörperchen) wie Histamin, Leukotriene und Prostaglandine. Als Folge kommt es zu einem Aufweiten und einer erhöhten Durchlässigkeit der Gefässe sowie zu einer Verengung der Bronchien. Durch die Gefässerweiterung sinkt der Blutdruck schlagartig ab und es droht ein Kreislaufzusammenbruch. 

Neben Insektengiften können Anaphylaxien auch durch Nahrungsmittel (z. B. Erdnuss)  oder Medikamente (z. B. Antibiotika) und anderes ausgelöst werden. Aber auch nicht IgE-vermittelte allergische Ereignisse sind möglich. Solche sogenannten anaphylaktoiden Reaktionen (Pseudoallergien) verlaufen unabhängig von den IgE-Antikörpern, meist durch Medikamente, Röntgenkontrastmittel oder physikalische Reize (Kälte, UV-Licht u. a.), und zeigen die gleichen klinischen Symptome. 

Beine hoch

Die beiden Hobbyimker waren mittlerweile in finsterer Nacht am Standort im Bergwald angekommen. Hier wurde der nächste Fehler gemacht, denn Patienten mit Anzeichen einer Anaphylaxie sollten unbedingt Anstrengungen vermeiden und ruhig liegen. Stattdessen begannen sie, die schweren Bienenkästen auszuladen. Schon nach wenigen Sekunden sackte Eyssell zusammen und wurde bewusstlos. Er befand sich nun in einem lebensbedrohlichen Stadium. Da kein Handyempfang möglich war, konnte keine Hilfe herbeigerufen werden. «In einem solchen Fall sollten als erste Massnahme der Patient hingelegt und die Beine nach oben gelagert werden. Damit bleibt mehr Blut im zentralen Kreislauf», rät ­Jürgen Grabbe. «Die einzige Ausnahme ist Atemnot. Solche ­Patienten können in einer sitzenden Position besser atmen. Wenn wirklich kein Notarzt erreichbar ist und auch keine Medikamente verfügbar sind, sollte man die Atmung und den Herzschlag des Betroffenen kontrollieren und gegebenenfalls eine Wiederbelebung einleiten.» 

Drei bis vier Tote

Nach Angaben von «aha! Allergiezentrum Schweiz» kommt es in der Schweiz pro Jahr zu drei bis vier Todesfällen durch Insektenstiche.1  An einer Insektengiftallergie leiden hierzulande immerhin 3,5 Prozent der Bevölkerung. Über die Zahl der jährlich auftretenden Anaphylaxien existieren von Land zu Land sehr unterschiedliche Angaben, nicht zuletzt durch unterschiedliche Definitionen. So liegt laut einer Studie aus dem Jahr 2008 die Inzidenz in den USA bei bis zu vierzig bis fünfzig Personen pro 100 000 Einwohner pro Jahr,2 in England sechs bis acht Fällen3 und in Deutschland, gemäss einer Studie von Berliner Notärzten, zwei bis drei Personen pro 100 000 Einwohner4. Auch Jürgen Grabbe schätzt, dass in der Schweiz mit zwei bis acht Anaphylaxien pro 100 000 Einwohner zu rechnen sei, das wären schweizweit maximal 660 Fälle. 

Von Wespen und Bienen

Auslöser von Insekten-Anaphylaxien sind vor allem Bienen- und Wespenstiche. Zwar sind auch Hummeln in der Lage zu stechen, tatsächlich setzen die friedlichen Tiere ihren Stachel nur sehr ungern ein. Die eher seltenen Hornissen sind zwar gefürchtet, ihr Stich ist aber kaum stärker als der von Wespen. Gemäss einer Analyse von 4100 Anaphylaxien in Deutschland, Österreich und der Schweiz, waren die Hälfte auf Insektengift, 25 Prozent auf Nahrungsmittel und 15 Prozent auf Medikamente zurückzuführen.5 Innerhalb der Insektengifte wurden 1460 Wespen- und 412 Bienenstiche gezählt. Dabei scheint es interessanterweise regionale Unterschiede zu geben, wie Grabbe berichtet. So treten in der Schweiz im Vergleich zu Deutschland deutlich häufiger Bienengiftallergien auf, was möglicherweise  auf die vielen Hobbyimker hierzulande zurückgehe. Insgesamt ist Bienengift wirksamer als Wespengift. Auch ist die Giftdosis eines pumpenden Bienenstachels zumeist deutlich höher als bei einem Wespenstich. Zwar sind zwanzig Stiche schlechter als zwei, allerdings kann schon ein einziger Stich eine starke allergische Reaktion auslösen. Bei Stichen im Hals- und Rachenraum ist besondere Vorsicht geboten, da Erstickungsgefahr durch Zuschwellen der Atemwege droht. Trotz solcher verstörender Szenarien sind Bienen-, Wespen- und Hornissenstiche in den allermeisten Fällen harmlos. Zwar tut jeder Stich im ersten Moment richtig weh, die Schwellungen und Rötungen heilen jedoch fast immer schnell wieder ab. 

Notfallset und Desensibilisierung

Für Detlev Eyssell nahm sein Ausflug in den nächtlichen Bergwald ein gutes Ende. Nach rund dreissig Sekunden Bewusstlosigkeit kam er wieder zu sich und konnte – in sicherer Liegeposition – von seinem Imkerfreund ins nächste Spital gebracht werden, wo er einige Stunden unter Beobachtung blieb.

Seit einigen Monaten erhält er beim ­Allergologen eine Bienengiftdesensibilisierung. Solche spezifischen Immuntherapien haben hohe Erfolgsquoten. So reagieren 95 Prozent der Wespengiftallergiker und 85 Prozent der Bienengiftallergiker nach einer Desensibilisierung nicht oder nur noch schwach auf einen entsprechenden Stich. Eyssell führt jetzt immer ein Notfallset mit sich, mit einer Adrenalin-Fertigspritze, einem schnell wirksamen Antihista­minikum und Kortisontropfen.

Es sind übrigens nicht nur Insektenstiche, Nahrungsmittel oder Medikamente, die zu heftigen allergischen Reaktionen führen. So kann, wenn auch sehr selten, ­alleine körperliche Anstrengung wie Sport einen anaphylaktischen Schock hervorrufen. Jürgen Grabbe erinnert sich an einen jungen Mann, der bei seiner Freundin auch «bei einer sehr angenehmen Form körperlicher Anstrengung» Anzeichen einer Anaphylaxie aufwies. Er wird jetzt regelmässig im Spital mit speziellen Antikörpern behandelt. Seinen körperlichen Tätigkeiten kann er wieder bedenkenlos nachgehen. ­•